Donnerstag, 2. April 2015

In einem Land vor unserer Zeit – Eindrücke aus Transnistrien



Der grüne Pass wird kritisch beäugt. Der Grenzer blättert missmutig darin herum und weiß noch nicht so recht, was er von einem grünen Reisepass aus Deutschland halten soll. Zunächst werden also die normalen, sprich bordeauxroten Dokumente unserer Gruppe kontrolliert und allesamt für einreisewürdig befunden. Wir erhalten eine Bescheinigung, die zu einem zehnstündigen Aufenthalt berechtigt, ausgestellt auf Russisch und Rumänisch. Am Ende wird auch der vorläufige, grüne Reisepass akzeptiert. Willkommen in Transnistrien, dem vielleicht am wenigsten anerkannten Staat der Welt. Dafür nimmt der Grenzbeamte seinen Job allerdings bierernst.

Die Stimmung in der Gruppe ist dennoch heiter, alle sind gespannt auf die oft zitierte „Zeitreise in die Sowjetunion“, mit Lenin-Statuen und reichlich Ostalgie. Von Chişinău, der Hauptstadt der Republik Moldau, benötigt unser eigens gemieteter Minibus nur eine gute Stunde bis zur Grenze der Pridnestrowischen Moldauischen Republik, so die amtliche Eigenbezeichnung. Gegründet wurde die Republik nach dem Zerfall der Sowjetunion 1990, was die Regierung in Chişinău vergeblich zu verhindern suchte. 1992 eskalierte der Konflikt, russisches Militär schritt ein, hunderte Menschen kamen uns Leben.

Heute leben in der abtrünnigen Region, die völkerrechtlich weiterhin zu Moldau gehört, mehr als eine halbe Millionen Menschen, zu etwa gleichen Teilen Moldauer, Russen und Ukrainer. Flächenmäßig ist Transnistrien in etwa anderthalb mal so groß wie das Saarland, die breiteste Stelle misst gerade einmal 30 Kilometer. Reisen zwischen Tiraspol und Chişinău oder Odessa sind meist ohne Schwierigkeiten möglich, einen neuen Eisernen Vorhang gibt es glücklicherweise nicht.

Mitte März zeigt sich die Landschaft grau in grau. Regenwolken hängen am Himmel, als wir einen Posten russischer „Friedenstruppen“ passieren, der sich vor der Brücke über den Grenzfluss Dnister eingegraben hat. Mehr als tausend russische Soldaten sind in Transnistrien stationiert und tragen dafür Sorge, dass das Gebiet seine Souveränität gegenüber der Republik Moldau wahrt. Im Landesinnern hilft dabei der KGB, der heute wie damals über die Bürger wacht. Hammer und Sichel zieren weiterhin Flagge und Landeswappen. Die Sowjetunion scheint noch nicht überall untergegangen zu sein.

Ein russischer Patriot

 



Unser Fahrer bringt uns direkt zum ersten Termin ins Zentrum von Tiraspol. Als Hauptstadt Transnistriens wird der Ort nur von den abtrünnigen Brüdern Abchasien, Süd-Ossetien und Berg-Karabach anerkannt. Selbst die Schutzmacht Russland konnte sich bisher noch nicht zu einer offiziellen Anerkennung durchringen, obwohl die transnistrische Regierung bereits mehrfach bekräftigt hat, der Russischen Föderation beitreten zu wollen. Bislang zeigte Moskau Tiraspol in dieser Hinsicht jedoch die kalte Schulter.

Unser erster Gesprächspartner, der Parlamentsabgeordnete Anatolij Dirun, dunkelblauer Anzug, Topffrisur, hält Russland dennoch weiterhin die Stange und betont die enge Verbundenheit seiner Landsleute mit der russischen Lebensart, Kultur und Sprache. Diese sei im Gegensatz zur westlichen weniger materialistisch und dafür patriotischer. Da ihm unsere Gruppe an diesem Morgen nicht ausgeschlafen genug erscheint, entschuldigt sich Dirun zunächst für die noch nicht vorhandene Kaffeemaschine, bevor er uns den Wert des Patriotismus näher erläutert. Dieser bedeute für den 37-jährigen Politiker Liebe zur Heimat, Gehorsamkeit gegenüber Staat und Gesetz, Dienst in der Armee und Respekt vor den Älteren. Er zeigt sich neidisch auf die Krim, die nun ein Teil Russlands geworden ist. Dirun träumt davon, dass eines Tages auch Transnistrien dazu gehören könnte und erscheint in diesem Moment noch ein wenig mehr aus der Zeit gefallen, mit seiner steifen Haltung und Treue zu Moskau.

Nichtsdestotrotz verschweigt Dirun nicht, dass Europa bei vielen Transnistriern positiv besetzt sei und rund 60 Prozent der Exporte dorthin gehen. Er selbst zählt sich zur Opposition im Land und kritisiert die gegenwärtige Regierung, die zu wenig gegen die sich verschärfende Krise unternehme. In den letzten Monaten seien die Preise gestiegen, die Investitionen eingebrochen und die wirtschaftliche Lage verschlechtere sich.

Transnistrische Rubel und russische Pässe



Da moldauische Lei östlich des Dnister nicht als Zahlungsmittel akzeptiert werden, gilt unser nächster Halt einer örtlichen Bank. Für einen Euro erhalten wir etwa 12 transnistrische Rubel, wobei die Preise in Tiraspol mit denen in Chişinău vergleichbar sind. Bei Gesprächen in der moldauischen Hauptstadt bekommen wir mehrfach zu hören, dass gerade der ähnlich hohe oder vielmehr niedrige Lebensstandard in den beiden Teilen eine Wiedervereinigung erschwere. Für die Menschen in Transnistrien sei der westliche Nachbar nicht attraktiv genug, auch in Tiraspol sind die Supermärkte gut gefüllt, die Straßen ganz passabel und das (von Russland subventionierte) Gas zudem günstiger. Seitdem man allerdings mit einem moldauischen Pass visumfrei in die EU einreisen kann, ist zumindest dessen Anziehungskraft gestiegen. Mehrere zehntausend Transnistrier haben bereits in Chişinău einen Antrag gestellt.

Unser einheimischer Führer zieht gleich eine ganze Reihe von Ausweisdokumenten aus seiner Mappe. Er ist sowohl transnistrischer als auch moldauischer und russischer Staatsbürger. Reisen ohne Visum von Lissabon bis Wladiwostok ist für ihn kein Problem. Zusätzlich zur Ausweissammlung zeigt er uns auch noch die Sehenswürdigkeiten Tiraspols, die etwas spärlich gesät sind. Der viel beschworene Sowjetcharme Transnistriens unterscheidet sich von den maroden Plattenbauten in Chişinău eigentlich nur darin, dass in Tiraspol Sowjetsterne leuchten und Lenin-Denkmäler stehen, wie es sie auch in jeder Stadt in Russland gibt. Schräg gegenüber dem Gebäude des Obersten Sowjets, das seinen alten Namen behalten hat und heute Regierung und Parlament beherbergt, wacht ein historischer T-34 Panzer über die Soldatendenkmäler und die neue Georgskapelle. Ein paar Meter weiter steht eine bronzene Reiter-Statue für den russischen Feldherrn und Stadtgründer Alexander Suvorov. Ansonsten gibt es hier nicht viel zu besichtigen. 

Zwischen den Stühlen

 



Bei einsetzendem Nieselregen machen wir uns auf den Weg in das ukrainische Restaurant Kumanek, wo wir mit unseren nächsten Gesprächspartnern verabredet sind. Die Außenpolitiker Sergej Schirokow und Wladimir Jastrebtschak, beide in Anzug und Krawatte, schieben den schwarzen Peter den Kollegen in Chişinău zu. Moldau habe bislang keine guten Angebote für eine Vereinigung auf den Tisch gelegt und außerdem genug eigene Probleme. Außerdem seien die Menschen in Transnistrien mehrheitlich gegen einen Zusammenschluss. Ob das auch mit dem kostenfreien Empfang nicht nur russischen Gases, sondern auch des russischen Fernsehens zusammenhängen könnte, wollen wir gerne wissen. Aber Jastrebtschak, der früher mal Außenminister war, winkt ab. Neben russischen Medien könnten die Menschen auch moldauische und ukrainische TV-Kanäle schauen. In gutem Englisch erzählt uns der 35-Jährige, dass die transnistrischen Behörden der Europäischen Union gestattet hätten, ein Informationszentrum in Tiraspol zu eröffnen. Aber Brüssel zögere. Beim Hintergrundgespräch in der EU-Vertretung in Chişinău klingt das zwar ein wenig anders, verstärkt allerdings den Eindruck, dass beim Thema Transnistrien diametrale Sichtweisen und verhärtete Fronten aufeinander prallen.

Mehr Bewegung ist womöglich in den nächsten Monaten zu erwarten, da Anfang 2016 europäische Handelserleichterungen durch das Assoziierungsabkommen mit der Republik Moldau für Transnistrien wegfallen könnten. Wenn die EU-Zollaußengrenze nicht entlang des Dnister verlaufen soll, müsste Tiraspol dem Freihandelsabkommen beitreten – und würde damit den Zorn Moskaus auf sich ziehen. Da sich in Russland die wirtschaftliche Lage zusehends verschlechtert und weniger Rubel nach Transnistrien rollen, steht das kleine Land vor einer wegweisenden Richtungsentscheidung, wenn es am Ende nicht zwischen den Stühlen Platz nehmen möchte.

Zivilgesellschaft im Polizeistaat


Unser letzter Programmpunkt führt uns in einen Vorort von Tiraspol. In einem unscheinbaren Plattenbau treffen wir Mitarbeiterinnen einer NGO, die sich gegen Zwangsarbeit und Menschenhandel stark machen und sich für Missbrauchsopfer einsetzen. Über eine Hotline können sich Betroffene jederzeit an die Expertinnen wenden und erhalten Informationen und Beratung. Dabei werden sie ausschließlich von westlichen Ländern und Organisationen finanziell unterstützt. Weder von der Regierung noch aus Russland erhalten die engagierten Frauen Mittel für ihre wichtige Arbeit. Immerhin lässt der Staat sie in Ruhe und vergibt auch mal die eine oder andere Urkunde, solange sie sich nicht politisch betätigen. Der KGB sei jedenfalls schon lange nicht mehr da gewesen, lacht eine Mitarbeiterin.

Laut eines UN-Berichts hat sich die Menschenrechtslage in Transnistrien in den letzten Jahren durchaus verbessert. Dennoch hapert es noch an der Umsetzung und Anwendung  der von der Verfassung garantierten Rechte. Eine unabhängige Justiz gibt es nicht. Unabhängige Medien und politische Initiativen haben es schwer. Nicht nur bei der Korruptionsbekämpfung, sondern auch bei der Achtung von Demokratie und Zivilgesellschaft bleibt in Transnistrien noch viel zu tun.

Good Bye, Lenin

 

Die Sonne geht gerade unter, als wir die Platte verlassen und uns im Minibus auf den Rückweg machen. Bei Einbruch der Dunkelheit erreichen wir die Grenze, wo erneut unsere Pässe eingesammelt werden. Kurz darauf bitten die Zöllner unseren Fahrer nach draußen. Wir warten. Erst zehn Minuten, dann 20 Minuten und schließlich eine halbe Stunde. Irgendwann gehen uns die Witze aus, was denn die Behörden mit uns machen werden, wenn wir nicht in den vorgegebenen zehn Stunden das Land wieder verlassen haben. Die Uhr tickt und die Spannung steigt. Schließlich wartet man nicht jeden Tag auf die Ausreise aus einem Land, das es eigentlich gar nicht gibt. Doch dann ist unser Fahrer plötzlich wieder da und übergibt uns elf rote und einen grünen Pass. Wie viel er denn bezahlt hat, wollen wir wissen. Doch er lächelt nur, schmeißt den Motor an und fährt los. Im Rückspiegel verschluckt die Dunkelheit den Grenzposten und das Land jenseits des Dnisters mitsamt seinen Lenin-Statuen und Sowjetsternen.

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